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Date Posted: 23:55:25 01/03/02 Thu
Author: Seelenjaegerin
Subject: Ein Traum

Tag 1
Gestern noch schlief ich wie immer in meinem behaglichen Bett zu Hause ein, erwachte jedoch hier. Hier – das ist kalte, nackte Erde, die an meiner Kleidung hängenblieb, als ich aufstand. Während ich mich umblickte, versuchte ich auszumachen, wo ich war. Sofort erblickte ich die Gitterstäbe, die mich von der Außenwelt trennten. Dahinter sah ich im Sonnenlicht das Grün von Wiesen und Bäumen erstrahlen, Wege führten hindurch, von Menschen benutzt, die von Zeit zu Zeit direkt vor mir stehenblieben und mich wortlos ansahen. Ich versuchte natürlich, mit ihnen zu reden, sie um Hilfe zu bitten, doch sie schienen mich nicht im geringsten zu verstehen (verstehen zu wollen?). Nach einer Weile gab ich auf und betrachtete, wann immer einer vorüberkam, ihn genauso starr und scheinbar ohne Verstand, wie er mich. Währenddessen begann ich mich innerhalb der Gitterstäbe umzusehen. Auf der Erde neben mir stand eine Schüssel mit etwas Brot und Wasser, direkt daneben lagen Stift und Papier. Wofür Stift und Papier? Wer hatte mich hierher gebracht, wer schien mich hier mit dem nötigsten versorgen zu wollen? Was hatte das alles zu bedeuten? Fragen, auf die eine Antwort schlicht und einfach nicht zu existieren schien, obwohl das genau das war, was ich im Moment am meisten fürchtete – nicht die Gefangenschaft, nicht das Abgeschnittensein von jeglicher Zivilisation, sondern vielmehr das Fehlen des Warum. Angesichts dieser Situation sah ich nur einen logischen Schluß – ich mußte meine Erlebnisse aufschreiben. Ich nahm also Stift und Zettel und begann, diese Aufzeichnungen zu führen. Während die Stunden des Tages an mir vorüberzogen und ich überlegend (und hin und wieder den dümmlich-staunenden Blick eines Menschen vor dem Gitter erwidernd) auf dem Boden saß und schrieb, begann ich mich zu fragen, wo die Gitterstäbe endeten. Ich konnte nämlich - und ich hielt es beinahe für absurd, daß mir das jetzt erst auffiel - zu beiden Seiten, nach links und nach rechts, blicken, so weit ich wollte, ich sah nur die Erde zu meiner Seite, das Gitter und dahinter die Parklandschaft. Einen lächerlichen Moment lang dachte ich: Wie wunderbar, ich bin gar nicht gefangen, ich bin frei! Ich kann gehen wohin es mir gefällt – nur eben nicht in den Park, nicht zu den Wiesen und Bäumen, nicht zu den anderen. Noch immer über die Bedeutung des ganzen sinnierend, überkam mich Hunger und ich begann, von dem Brot zu essen und das Wasser zu trinken. Die leere Schüssel stellte ich wieder auf den Boden. Die Sonne ging nun allmählich unter, und ich beschloß, mich schlafen zu legen, in der Hoffnung, am Morgen da zu erwachen, von wo ich zwei Tage zuvor verschwand – zu Hause.

Tag 2
Meine Hoffnungen wurden begraben, als mich die Strahlen der Sonne am nächsten Tag die Augen öffnen ließen und ich alles unverändert vorfand. Bis auf eines – die Schüssel war wieder gefüllt! Neues Brot und neues Wasser! Ich nahm etwas davon zu mir und dachte nach. Jemand mußte in der Nacht hier gewesen sein. Wenn ich auch nicht wußte, auf welche Weise er hereinkam und wieder heraus, eins wußte ich – ich würde die nächste Nacht nicht schlafend verbringen. Es war an der Zeit, etwas herauszufinden, Antworten auf die quälenden Fragen, die mein klägliches Leben hier beherrschten. Das Fremde und Andersartige hier ging mir allmählich auf die Nerven! Ich wollte nach Hause zurück! Bevor ich also wahnsinnig wurde, nahm ich Papier und Schreibgerät und begann, den Ablauf des heutigen Tages darauf zu verewigen, in der Hoffnung, meine niedergeschriebenen Gedanken würden mir etwas von der Normalität zurückbringen, die ich gewohnt war, etwas von mir selbst – ein Stück Menschlichkeit. Doch diese Wirkung blieb aus und das erschreckte mich. Vielmehr schienen die krakligen Sätze genauso fremd und unbekannt wie alles andere um mich herum. Ich wollte aufhören zu schreiben und warf das Papier weg, nach einer Weile Nichtstun jedoch entschloß ich mich weiterzumachen. Es bewahrte mich doch ein wenig davor, meinen Geist gänzlich dem Chaos opfern zu müssen. Ich beobachtete das Dämmerlicht und sah die Sonne untergehen. Nun war es an der Zeit zu warten. Etwas würde bald geschehen. Und ich würde es nicht verpassen.

Tag 3
Erneut schien das Schicksal mich verspotten zu wollen. Die ganze Nacht mit wachen Augen umherblickend, um nichts zu verpassen, erreichte ich nur, daß die Schüssel diesmal nicht gefüllt wurde und leer blieb. Als die Sonne nach endloser Zeit aufzugehen begann, fing ich mit knurrendem Magen an, wieder aufzuschreiben, was geschehen war – nichts war geschehen. Was nun? Sollte ich mich in der nächsten Nacht schlafend stellen? Nein – ich wollte nicht mehr auf diese passive Weise versuchen, mein Schicksal zu ergründen, ich wollte endlich Aktivität zeigen. Als erstes versuchte ich sinnloserweise, die Gitterstäbe irgendwie zu biegen oder brechen. Ihr Metall jedoch hielt standhaft. Dann nahm ich die Schüssel und begann, in der Erde zu graben. Ich weiß nicht mehr, was ich zu finden erhoffte, ich fand es jedenfalls nicht – nur weitere Erde. Ich grub fast den ganzen Tag, es war das einzige, was ich tun konnte. Das einzige? Nein, war es nicht! Es gab noch etwas. Und der untergehenden Sonne entgegenblickend, begann ich loszulaufen, das Papier und den Stift fest in der Hand. Daß es Nacht wurde, interessierte mich nicht im geringsten.

Tag 4
Eine Nacht und einen Tag lang verbrachte ich an den Gitterstäben entlanggehend oder, wenn es mir zuviel wurde, auch einmal rennend. Weder vor noch hinter den Stäben änderte sich die Aussicht. Hier trostlose, braunschwarze Erde, dort grüne Wiesen, von Bäumen durchsetzt – schattige Inseln, langgestreckte Wege mit ein paar vereinzelten Menschen. Am Abend setzte ich mich und bemerkte erstmals, während ich schrieb, wie sehr Hunger und Durst meinen Körper quälten. Doch die Schüssel, die vermutlich ohnehin wieder leer geblieben war, war Kilometer entfernt. Irgendwas brachte mich auf den Gedanken, daß sie vermutlich sogar ganz verschwunden war. Wenn ich zurücklaufen und sie suchen würde, ich war mir sicher, ich würde sie nicht wiederfinden. Das war mir nun egal. Ich erkannte die Sinnlosigkeit meines Tuns, aber noch viel klarer vor Augen war mir die Sinnlosigkeit meines Nichtstuns. Darum ging ich weiter.

Tag 5
Zwei Tage und zwei Nächte war ich gelaufen. Die letzte Zeit war ich fast nur noch gerannt. Ich war schließlich hingefallen und war unfähig, wieder aufzustehen. Durst und Hunger nagten noch immer an mir! Sie waren schlimmer geworden, viel schlimmer – das bemerkte ich erneut erst, als ich aufhörte, mich zu bewegen. Ich war gerannt und hatte viel Flüssigkeit verloren. Wenn sie nicht ersetzt wurde... Müde betrachtete ich meinen Knöchel. Er schien verstaucht. Das beendete mein sinnloses Gehen. Ich setzte mich auf und begann zu schreiben. Die Sonne ging allmählich unter und es wurde immer dunkler. Mehrmals verschwamm das Papier vor meinen Augen und ich mußte mich sehr anstrengen, wieder klar zu sehen – soweit das in der Dämmerung ging. Ich beschloß zu schlafen, vielleicht würde das die Schüssel zurückkehren lassen. Ich habe Hunger und Durst!

Tag 6
Die Nacht war die Hölle. Ich konnte vor Durst und Hunger nicht schlafen. Mein Knöchel schmerzte entsetzlich. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, wo ich war, wer mir das antat, was das sollte. Als die Sonne wieder aufging, schien es mir gleichzeitig, als wäre sie gerade erst untergegangen und als wäre ein Jahrtausend lang Nacht gewesen – eine Nacht voller dunkler Gedanken. Ich kann mich mittlerweile kaum noch bewegen, das Atmen fällt mir schwer und die Phasen, in denen alles vor meinen Augen verschwimmt, werden immer länger. Ich weiß nicht, wie lange ich noch schreiben kann - das einzige, was ich noch kann. Die Leute, die vorübergehen, sehen mich nur an, sehen mir beim Sterben zu. Sie scheinen so bunt, fröhlich, glücklich - ich dagegen muß aussehen wie ein lumpiger Bettler am Straßenrand. Wenn mir doch nur einer helfen könnte! Die Sonne brennt so heiß. Ich kann nicht mehr. Ich muß jetzt aufgeben. Ich fühle mein Herz immer langsamer schlagen. Mittlerweile sehe ich überhaupt nicht mehr klar und muß blind schreiben. Eine Menschenmasse beginnt sich vor den Gitterstäben zu bilden. Ich sehe bunte, fleischfarbene Flecken, die herankommen und stehenbleiben.
Alle starren mich an. Diese glücklichen, zufriedenen Menschen. Warum befassen sie sich mit mir? Ich will nicht mehr. Ich werde jetzt aufhören zu schreiben. Meine Kräfte lassen nach, der Stift rutscht mir immer wieder aus der Hand. Ein paar der Blätter wehen weg, auf die Erde. Die Menschen, die fleischfarbenen Flecken, kommen näher. Sie gehen durch die Gitterstäbe hindurch, als wären die gar nicht da! Was hat das zu bedeuten? Was wollen sie? Doch eigentlich ist mir das egal. Will nur noch schlafen. Meine Augen fallen zu. Mein Atem. Mein Herz. Nur eines noch: Wer immer dies liest, möge sich erinnern an das Leben und den sinnlosen Tod von ...

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