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Date Posted: 23:35:50 10/06/01 Sat
Author: Janosch
Subject: Re: Was ist Realitätsverlust?
In reply to: Lioness 's message, "Was ist Realitätsverlust?" on 19:39:16 10/05/01 Fri

Hi,

>(...) Was ist Realität?

Ich verstehe unter 'der Realität' das System all jener Dinge, die Einfluss auf irgendwelche Wahrnehmungen von Menschen haben können.

>Was ist Realitätsverlust?

Ich sage, jemand leide unter mangelndem Kontakt mit der Realität, wenn er einer Theorie über die Struktur derselben anhängt, die geringe Vorhersagekraft besitzt oder die viel komplizierter ist als eine bekannte andere Theorie zur Struktur der Realität mit mindestens gleicher Vorhersagekraft.
Beispiel: angenommen, jemand traut sich nicht mehr, seine Wohnung zu verlassen. Es könnte etwa sein, daß dies so ist, weil er der Theorie anhängt, draussen warteten auf ihn Mitarbeiter der lokalen Zweigstelle der Klingonen-Mafia, und der Betonmixer neben der Baustelle gegenüber zeige auch ganz deutlich, was diese im Fall eines Falles mit ihm anstellen würden.
Bei den meisten Personen mit derartigen Befürchtungen wird man feststellen, daß diese Theorie, der sie anhängen, keine guten Vorhersagen hinsichtlich künftiger Ereignisse liefert und daß sie auch nicht in der Lage sind, nachprüfbar 'reale' frühere Ereignisse zu benennen, die diese Theorie stützen würden, und daß es eine a priori plausiblere Theorie gibt, die ihre Befürchtungen erklärt, namentlich die, daß ihr Gehirn sich in einem Zustand befindet, den man gemeinhin als Paranoia bezeichnet *g* (diese Theorie ist a priori plausibler schon deshalb, weil es in den meisten Gegenden dieser Welt weniger Opfer der klingonischen Mafia zu geben scheint als psychisch Kranke mit paranoiden Symptomen).
Für die Frage nach dem Freitod relevant ist eine gegebenenfalls verlorengegangene Fähigkeit des potentiellen Suizidenten, sich aus seinen Wahrnehmungen ein Weltmodell mit guter Vorhersagekraft zu basteln, weil sich zumindest manche Suizidler wohl nicht einfach so und schlechthin töten wollen, sondern etwa im obigen Beispiel deshalb, weil das der einzige Weg ist, um der Klingonen-Mafia zu entkommen. In einer Welt, in der die Klingonen-Mafia keine Bedrohung ist, wird sich ein solcher Mensch nicht töten wollen, und wenn man gute Hinweise darauf zu haben meint, daß unsere Welt just eine solche ist, kommt man in so einem Fall imho logisch zwingend zu dem Schluss, daß der fragliche Mensch sich aus dieser Welt gar nicht verabschieden wollen kann ;), und daß Handlungen, die dieser Deutung seiner Absichten zu widersprechen scheinen, eben darauf zurückzuführen seien, daß er die Sache mit der Klingonen-Mafia betreffend einem Irrtum aufsitzt. Und auch wenn von der Seite neoliberaler Politiker gelegentlich anderes verbreitet wird, bin ich nicht der Ansicht, daß man den Menschen mehr Freiheit verschafft, wenn man sie alle Konsequenzen ihrer Irrtümer ertragen lässt.
Anders wäre die Sache vielleicht, wenn unser Paranoiker auf die Frage nach den Gründen für seinen Selbsttötungswunsch angäbe, er könne die Tatsache, daß er sich von der Klingonen-Mafia verfolgt fühlt , nicht mehr ertragen, ganz unabhängig davon, ob diese nun existiere oder nicht, und er sei auch nicht bereit, die dadurch bedingte psychische Situation solange weiter zu ertragen, bis etwa eine psychopharmakologische Behandlung Wirkung zeigen würde. An einem solchen Argument für den Freitod gäbe es anscheinend logisch und sachlich nichts auszusetzen, wenn keine Gründe für die Annahme vorliegen, daß es sich dabei nicht um den wahren Grund der Suizidabsichten des Betroffenen handelt; da ein Suizid aber ein Ereignis ist, das für eventuell vorhandene Angehörige des Suizidenten überaus unangenehm ist, hätte ich auch in diesem Fall erhebliche Bedenken, falls die Aussichten für eine rasche Besserung der Situation des Paranoia-Patienten gut sind.
In verschärfter Form tritt die Frage, über die hier eigentlich diskutiert wird: ob man nämlich einen Suizidwunsch akzeptieren soll, der auf (vermutlich) falsche Vorstellungen über die Struktur der Welt zurückzuführen ist, auch auf, wenn Leute meinen, sie würden nicht sterben, wenn sie sich töten, sondern es fange nach dem physischen Exitus das wahre Leben ganz im Gegenteil erst richtig an (ob das dann ein Leben 72 Jungfrauen im Paradies isr oder eine Reise zu den Sternen im hinter dem Kometen Hale-Bopp wartenden Ufo , ist dabei für diese Diskussion unerheblich..). Meiner Meinung nach kann der Selbsttötungswunsch solcher Personen nur dann akzeptiert werden, wenn sie sich auch töten würden, falls es wahrscheinlich wäre, daß es mit dem Leben nach dem Tod nichts werden wird, denn ansonsten muss davon ausgegangen werden, daß sie mit ihren Handlungen eine Situation herbeiführen, deren Zustandekommen niemandes Interessen entspricht.
Manche werden nun einwenden, daß die hier vorgetragene moralische Theorie auf die Bevormundung von Menschen hinauslaufe und daß die in diesem Text enthaltenen Argumente sich gut dazu eigneten, auch die gelegentlich hier auftauchenden Aufrufe religiöser Mitmenschen zu rechtfertigen, die uns davor warnen, daß der Tod nicht, wie von uns gewünscht, das Ende aller Schmerzen bedeute. Dem ersten stimme ich zu und weise darauf hin, daß kaum jemand nicht zumindest in manchen Fällen die Bevormundung von nicht voll zurechnungsfähigen Menschen befürwortet - man bewahrt beispielsweise Medikamente nur deshalb an für Kinder unzugänglichen Plätzen auf, weil es sonst passieren könnte, daß diese sie für Futter halten und in unguter Dosierung aufessen könnten; auch wenn etwa ein Wahnsinniger behaupten würde, sein Bein wäre von Parasiten befallen und am Verfaulen und müsse abgeschnitten werden, wird man diesem Wunsch nicht entsprechen, wenn keine Anzeichen dafür sichtbar sind, daß es tatsächlich krank ist, weil man davon ausgeht, daß der Betreffende die Entfernung eines kranken Beines wünscht und ein solches nicht greifbar ist.
Den zweiten Punkt betreffend antworte ich, daß man zur Diagnose "Realitätsverlust" gute Argumente angeben muss dafür, daß die Weltsicht des Gegenübers falsch oder jedenfalls viel weniger plausibel ist als die eigene. Die Postings religiöser Möchtegern-Lebensretter, die hier gelegentlich auftauchen, zeichnen sich gerade durch das Fehlen derartiger Argumente aus und das (und also nicht etwa schon die Tatsache, daß in ihnen behauptet wird, der Tod wäre nicht das Ende) ist es, was sie furchtbar langweilig macht.
Natürlich kann die Unterscheidung zwischen irrtümlichem, unabsichtlichem und zur Beendigung einer unerträglichen Situation notwendigem Suizid beliebig schwierig werden. Ich kann darin allerdings kein Argument sehen für die Meinung, die von einigen vielleicht geäußert werden wird, daß im Header dieses Forums künftig die Unterscheidung als solche nicht mehr vorkommen sollte.

Grüße,
Janosch.

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